Schon wieder erschüttert eine Enthüllung von Whistleblower Edward Snowden die Welt: Das Spionageprogramm X-Keyscore des amerikanischen Geheimdienstes NSA kann Internetnutzer offenbar noch viel genauer überwachen als bisher gedacht. Ob Twitter-Post oder Supermarkteinkauf - nichts scheint mehr sicher vor den Augen der US-Geheimdienstler.
Ein NSA-Mitarbeiter öffnet bei dem Programm X-Keyscore eine einfache Suchmaske und hat dann Zugriff auf das gesamte Internet. Er kann alles durchsuchen: Private E-Mails, verschlüsselte Dokumente, soziale Netzwerke und - mit einem speziellen Transkribierungsprogramm - sogar Telefongespräche. Bilder der britischen Zeitung "The Guardian" zeigen, dass dieser unvorstellbare Prozess nicht einmal besonders kompliziert zu sein scheint. Snowden hatte der Zeitung Folien zur Verfügung gestellt, die der Geheimdienst NSA angeblich für Mitarbeiter-Trainings benutzt. Auf ihnen sind einfache Menüs zu sehen, in denen man auswählen kann, wonach gesucht oder wer überwacht werden soll. Hat man mit wenigen Klicks alles eingestellt, so die Zeitung, könne man beispielsweise die gesamte Kommunikation eines Internetnutzers überwachen.
Neue Ausmaße der Überwachung
Spätestens seit Snowden die Welt in das amerikanische Spähprogramm Prism einweihte, gab es Spekulation darüber, wie genau NSA-Angestellte das Onlineverhalten eines jeden Verbrauchers nachverfolgen können. Doch die Leistungsfähigkeit von X-Keyscore schockiert selbst Experten. "Natürlich weiß derjenige, der sich schon lange mit Datenschutzfragen im Internet beschäftigt, um die Verletzlichkeit des Internets", sagte Peter Schaar, Bundesbeauftragter für den Datenschutz, dem "Morgenmagazin" des TV-Senders ARD. "Aber die Details sind schon überraschend."
Bruno Kramm, Spitzenkandidat der Piratenpartei in Bayern, bezeichnet die X-Keyscore-Maske als "Gottesterminal, wo ich wirklich in jeden Bereich reinschauen kann." Die X-Keyscore-Suche eines Agenten sei vergleichbar mit der Suche von Otto Normalverbraucher nach einem Dokument auf seiner Festplatte. "Man kann sich das einfach so vorstellen, als wären die ganze Welt und alle Menschen dieser Welt auf Ihrer einen, persönlichen Festplatte gespeichert", erklärte Kramm.
Deutsche E-Mails sind verdächtig
Der entscheidende Unterschied zum Programm Prism ist Kramm zufolge, dass Analysten mit X-Keyscore viele verschiedene Informationen kombinieren können. Was ein Nutzer seinen Freunden bei Facebook schreibt, was für Bücher er im Internet bestellt und bei welcher Demonstration er mit dem Handy in der Tasche mitläuft, muss nicht mehr einzeln in verschiedenen Systemen gesucht werden. All das erledigt X-Keyscore in einem Rutsch.
Da das System so einfach funktioniert, nehmen die Agenten schon kleine Dinge zum Anlass, genauer hinzuschauen. Ein Beispiel des "Guardian": Wer in einer für den eigenen Standort ungewöhnlichen Sprache kommuniziert, könnte als verdächtig herausgefiltert werden. Wer im Ausland E-Mails auf Deutsch schreibt, lenkt also Aufmerksamkeit auf sich.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat weltweit mehr als 100 Partnergemeinden. Deutsche Gläubige, die in Kairo oder Abu Dhabi zur Kirche gehen, schicken teilweise sehr private Gedanken an ihren Pfarrer, natürlich in ihrer Muttersprache. Detlef Rückert, der Datenschutzbeauftragte der EKD, warnt davor, im Internet zu viel preiszugeben: "Der aktuelle Ausspähskandal unterstreicht, wie wichtig der sensible Umgang mit elektronischer Post ist", sagte Rückert auf Anfrage der DW. "Die Debatte macht auch klar: Das persönliche Gespräch ist und bleibt der geeignete Rahmen von Seelsorge."
Selbstzensur der Gedanken
Auch in Deutschland können Geheimdienstler mit X-Keyscore den gesamten Tagesablauf eines Menschen verfolgen. Morgens nach dem Aufstehen führt Piraten-Mitglied Kramm ein Gespräch mit einem Parteikollegen. "Dann gehe ich mit meinem Hund spazieren, hab mein Handy dabei und twittere ein bisschen, bin einkaufen bei Edeka und benutze meine Payback-Karte. All diese Informationen sind ein Teil des Ganzen", sagt Kramm. Wenn der beste Freund ein ernstes und privates Gespräch führen wolle, solle man am besten gemeinsam in den Wald gehen, schlägt der Politiker vor. Und zwar ohne Handy.
Mit dem Bekanntwerden solcher Überwachungsmethoden ändert sich auch das Verhalten der Internetnutzer. "Wir werden dadurch misstrauischer unserer Umwelt gegenüber", so Kramm. Seiner Meinung nach werden Internetnutzer künftig nicht nur einschränken, was sie anderen mailen, sondern sogar, was sie denken. Also: Selbstzensur statt freie Gedanken.
Autor: Carla Bleiker
Redaktion: Helena Baers